Ein Tier passt sich der Umwelt an, die es sich selbst gesucht hat


Veiko Krauß | Fragen und Antworten zur Evolutionsbiologie 2016


Falsch gestellte Fragen

Nur wer die richtigen Fragen stellt, wird sinnvolle Antworten bekommen. Die Frage "Wie schnell kann ein Hai fliegen?" ist nicht vernünftig beantwortbar. Ganz ähnlich kann eine wissenschaftliche Frage nicht gelöst werden, wenn sie nicht zutreffende Annahmen voraussetzt. Das gilt auch dann, wenn das dem Fragesteller gar nicht bewusst ist. Aus den Sternen kann der Kalender abgelesen werden, aber keine Lebensläufe, obwohl es bis heute versucht wird.

Die Art der Fragestellung ist auch für Evolutionsbiologen entscheidend. Die Frage, warum die Auslese aus einem vierbeinigen, landbewohnenden Säugetier Wale formte, ist wissenschaftlich nicht zu beantworten. Dennoch werden Varianten dieser Frage in Bezug auf verschiedenste der heute lebende Organismen immer wieder gestellt. Die Fragenden folgen damit, bewusst oder unbewusst, einem Forschungsprogramm, welches Ernst Mayr in seinen Essay "How to carry out the adaptionist program?" [1] beschrieb. Als Adaptionisten (auch Ultradarwinisten genannt) gehen sie davon aus, dass Selektion der einzige tatsächlich formende Mechanismus der Evolution ist.

Aus dieser falschen Annahme entstehen nach Elisabeth Lloyd [2] folgende immer wieder zu beobachtende methodische Fehler:

  1. Alle nur denkbaren Selektionsursachen werden geprüft, bevor auch nur einmal ernsthaft der Einfluss bereits vorhandener Merkmale, der Mutationswahrscheinlichkeit, der genetischen Drift oder der genetischen Kopplung untersucht wird.
  2. Es wird angenommen, dass entweder die Selektion oder nicht-selektive Evolutionsfaktoren die Organismen verändert haben, dass heißt, ein Zusammenwirken von Auslese und anderen Evolutionsfaktoren wird nicht einmal erwogen.
  3. Belege für das Wirken nicht-selektiver Faktoren wie Mutation, Drift und Draft sowie für Änderungen der Selektionsrichtung während der Merkmalsentstehung werden als "nicht evolutionistisch" beiseitegewischt oder ganz ignoriert.

Heute fast stets auch molekular arbeitende Evolutionsbiologen stellen dagegen die richtige Frage: Wie entstanden Wale aus einem vierbeinigen, landbewohnenden Säugetier? Die Antwort besteht immer in einen Zusammenwirken verschiedener Evolutionsfaktoren, wobei je nach Forschungsgegenstand die relative Bedeutung der Faktoren schwankt. So kann genetische Kopplung die Entstehung ökologisch unterschiedlicher Buntbarscharten aus einer Ursprungsart in kurzer Zeit ermöglichen [3], während spontan entstandene Genom-Verdopplungen, also Mutationen, offenbar die Auswahl bestimmter Arten als Nutzpflanzen wegen des dann oft größeren Ertrags begünstigt haben [4]. Beide Prozesse waren zugleich mit intensiver Selektion verbunden. Leider ist das adaptionistische Programm jedoch in populärwissenschaftlicher Literatur, in Schulbüchern, in der Soziobiologie und in der Evolutionspsychologie noch sehr stark präsent. Es bleibt deshalb wichtig, auf seine Fehlschlüsse hinzuweisen.

[1] Mayr E. How to carry out the adaptationist program? American Naturalist 1983 121:324-334.

[2] Lloyd EA. Adaptationism and the Logic of Research Questions: How to Think Clearly About Evolutionary Causes. Biological Theory 2015 10:343-362.

[3] Fruciano C, Franchini P, Kovacova V, Elmer KR, Henning F, and Meyer A. Genetic linkage of distinct adaptive traits in sympatrically speciating crater lake cichlid fish. Nature Communications 2016 7:12736.

[4] Salman-Minkov A, Sabath N, and Mayrose I. Whole-genome duplication as a key factor in crop domestication. Nature Plants 2016 2:16115.


Ist eine Adaption (eine Anpassung) ein Merkmal oder ein Prozess?

Oft wird hier geantwortet, eine Anpassung sei beides. Die Anpassung sei der Prozess, bei dem ein Anpassungsmerkmal entsteht. Das klingt korrekt, verbirgt aber, dass Organismen sich nicht nur einer Umwelt anpassen, sondern diese parallel zu ihrer eigenen Veränderung verändern. Andersherum gesagt schafft sich eine Art eine ökologische Nische, indem sie sich selbst verändert. Als sich verschiedene SI-Viren (SIV, Simian Immunodeficiency Virus) an den Menschen als Wirt anpassten, veränderten sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Umwelt. Dabei spielten einige Mutationen eine Rolle, die analog wie in der nebenstehenden Abbildung nur in Bezug auf die konkrete Ressource (hier der menschliche Wirt) von Vorteil sein müssen. Beim HI-Virus (HIV, Human Immunodeficiency Virus) waren das Mutationen, welche die Reproduktion des Virus in menschlichen T-Zellen begünstigten, andererseits aber seine Vervielfältigung in den ursprünglichen Wirten — den Affenarten Schimpanse (HIV-1) und Rußmangabe (HIV-2) — erschwerten. Eine Anpassung ist also ein Prozess, bei dem sich Organismenart und ihre für sie wesentliche Umwelt gegenseitig verändern. Adaption und Nischenkonstruktion sind zwei Seiten derselben Medaille. Ein verbessertes räumliches Sehvermögen eines Räubers wird die für ihn relevante Umwelt, z.B. sein Beutespektrum, notwendigerweise beeinflussen.

In der nebenstehenden Abbildung wurden zur Erläuterung dieses Konzeptes zahlreiche Mutationsereignisse durch farbige Pfeile dargestellt. Rote, deutlich nach links weisende Pfeile sind die häufigen nachteiligen Mutationen, deren Träger sich insgesamt weniger als ihre Artgenossen fortpflanzen können (Selektion). Schwarze, nahezu vertikale Pfeile kennzeichnen die ebenfalls häufigen Mutationen ohne wesentliche Vor- oder Nachteile, welche häufig weitergegeben werden (Drift). Blaue, deutlich nach rechts zeigende Pfeile stehen für die seltenen, die ökologische Nische der Arten vergrößernden Mutationen. Sie führen zu einer verbesserten Ausnutzung der Umweltressourcen durch mehr Nachkommen.


Ist Selektion der einzige nicht zufällig wirkende Faktor der Evolution?

Nein, denn

  1. Selektion tritt notwendig ein, weil die Reproduktion unterschiedlicher Organismen unterschiedlich wahrscheinlich ist.
  2. Drift tritt notwendig ein, weil jede Population endlich ist, genauso wie jedes Würfelspiel Sieger und Verlierer hat.
  3. Rekombination tritt notwendig ein, weil jedes Chromosomenpaar bei sexueller Fortpflanzung Anteile der Chromosomen aller vier Großeltern enthält (Das gilt auch für Geschlechtschromosomenpaare).
  4. Mutationen treten notwendig ein, weil die DNA-Replikation nicht fehlerfrei sein kann.

Alle Evolutionsfaktoren wirken aber auch zufällig, denn

  1. Ein einzelnes Selektionsereignis betrifft immer ein vollständiges Genom, dessen einzelne Allele in der Regel nur zufällig betroffen sind. Dieser Zufall setzt sich aus Drift und Draft zusammen.
  2. Drift beschreibt die zufällige Weitergabe ausreichend neutraler Allele.
  3. Die Stelle des Chromosomenbruchs bei der Rekombination ist in jedem Einzelfall zufällig.
  4. Art und Ort jeder einzelnen Mutation ist zufällig, wobei allerdings die Wahrscheinlichkeit von bestimmten Mutationen sehr unterschiedlich und nicht zufällig verteilt ist.

Mit anderen Worten, alle Evolutionsfaktoren wirken sowohl in notwendiger als auch in zufälliger Weise. Es kommt allein darauf an, aus welcher Perspektive sie gesehen werden. Notwendigkeit beschreibt dabei einen Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen, während nicht-zusammenhängende Ereignisse sich zufällig zueinander verhalten.

Selektion hängt allerdings als einziger dieser Faktoren vom Reproduktionserfolg ab, d.h. Selektion hängt notwendig mit diesem Erfolg zusammen! Ist diese Tatsache nicht entscheidend für das Verständnis des Evolutionsprozesses?

Die Antwort lautet nein, denn die Reproduktion der Organismen ist zwar entscheidend für ihre Fortexistenz, aber erklärt nicht, warum heute Millionen sehr unterschiedlicher Lebewesen auf der Erde koexistieren. Die fortdauernde Reproduktionsfähigkeit der Organismen ist nichts anderes als eine logische Rahmenbedingung, der jede evolutionäre Veränderung genügen muss. Die Art der Veränderung selbst wird wesentlich von der unter diesen Umständen möglichen Mutationen und ihren Auswirkungen auf die Lebensweise bestimmt. Jede Veränderung hat dabei eine zufällige Komponente (Drift und Draft). Sie verändert zugleich die Wahrscheinlichkeit weiterer Veränderungen (Vererbung). Rekombination ermöglicht hingegen, dass lebensfähigere Allele, gleich ob neu oder alt, tendenziell Bestand haben.


Wirkt Selektion wie ein Bildhauer oder wie ein Sieb?

Die Metapher des Bildhauers für den Selektionsprozess ist sehr verbreitet und geht auf Ernst Mayr zurück. Ein anonymer Rezensent meines Buches brachte es wie folgt auf den Punkt: "Die Mutationen liefern das Rohmaterial, aus dem die Selektion, ähnlich einem Bildhauer, die Anpassungen produziert (Flügel, Augen, Flossen...)." Wenn das zuträfe, würde ein ganz bestimmtes Endprodukt entstehen, wenn sich die Umweltbedingungen nicht ändern, denn der Beitrag der Mutationen begrenzt sich scheinbar auf die Bereitstellung des Ausgangsmaterials.

Ein aktuelles Resultat aus dem Langzeit-Evolutionsexperiment am Darmbakterium Escherichia coli [1] zeigt, dass dem nicht so ist: Die Fitness der Bakterien erhöht sich auch unter künstlich stabil gehaltenen Umweltbedingungen immer weiter. Zwar verringert sich die Geschwindigkeit der Fitnesserhöhung, aber es gibt keinen nicht mehr zu übertreffenden Grenzwert. Grundlage ist die permanente Entstehung neuer Mutationen. Die meisten von ihnen sind nachteilig und werden deshalb aus der Bakterien-Population durch Selektion entfernt. Einige Mutationen können sich jedoch in der Population längere Zeit halten oder sich sogar ganz durchsetzen. Solche Mutationen steigerten oft — nicht immer — die Fitness der Bakterien. Die Art der eindringenden Mutationen bestimmt dabei wesentlich das Evolutionsergebnis, denn sowohl die relative Fitness als auch die relative Erhöhung der Fitness unterschied sich signifikant zwischen den 12 im Versuch parallel evolvierenden Populationen. So hat nur einer dieser Populationen die Fähigkeit entwickelt, auch die Zitronensäure in der Nährlösung verwerten zu können. Eine andere Population blieb nicht nur in den absoluten Fitnesswerten deutlich hinter den anderen zurück, sondern zeigte auch geringere Fitness-Steigerungsraten als alle anderen. Erstere Population war also auf einen offenbar schwer erreichbaren Fitnessgipfel gelangt, während letztere in einen breiten Fitnesstal gefangen ist. Darüber hinaus stieß Lenskis Arbeitsgruppe auch auf Mutationen, die die Fitness folgender Mutationen positiv beeinflussten, sodass sich sogar Bakterien innerhalb derselben Population trotz gleicher Umweltbedingungen zeitweise zunehmend unterschieden. Die Selektion konnte sich hier offenbar nicht zwischen zwei Varianten entscheiden.

Eine wesentliche Schlussfolgerung, nicht nur aus dieser Publikation, lautet: Das Ausgangsmaterial der Bildhauerei der Evolution (um die Eingangs-Metapher zu übernehmen) stellen nicht Mutationen, sondern die Vererbung zur Verfügung. Mutation und Selektion wirken bei der Umgestaltung der Skulptur (also des Phänotyps) mit, wobei die Selektion entfernt, was unter gegenwärtigen Umweltbedingungen unpassend ist, während immer neue Mutationen die Skulptur immer wieder verformen und dabei sowohl etwas entfernen als auch etwas hinzufügen können. Auf diese Weise wird aus dem oben beschriebenen, notwendigerweise endlichen Prozess ein etwas realistischeres Modell niemals endender Veränderung, denn Mutationen können auch etwas hinzufügen, die Selektion nicht. Formgebend sind dabei die Mutationen, und das Sieb der Selektion lässt nur die tauglichen Varianten passieren. Ein finales Produkt kann nicht entstehen, weil mehr oder weniger neutrale Mutationen die Position der Organismen in der Fitnesslandschaft immer weiter verschieben.

[1] Lenski R et al. Sustained fitness gains and variability in fitness trajectories in the long-term evolution experiment with Escherichia coli. Proc R Soc Lond, B, Biol Sci, 2015 282:1821.


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Veiko Krauß im August 2017