Charles Darwin erfuhr seine akademische Ausbildung an den Universitäten von Edinburgh (links, McEwan Hall) und Cambridge (rechts, King's College) im 19. Jahrhundert. Deshalb wurden er und seine Evolutionstheorie unter anderem stark durch Thomas Malthus' Vermutung einer natürlichen Begrenzung der Bevölkerungskapazität und William Paleys Theologie der Zweckmäßigkeit der belebten Natur beeinflusst. Das führte Darwin zu einer Überschätzung der Konkurrenz sowie zur Ignoranz der Diskretheit der Variation und des Umstands, dass Lebewesen ihre Umwelt wesentlich selbst bestimmen, d.h. dass ihre Anpassung an sie in Wirklichkeit eine Wechselwirkung mit ihr ist.


Veiko Krauß | Fragen und Antworten zur Evolutionsbiologie 2014


Ist der Darwinismus veraltet?

Ja, auch wenn diese Antwort ein wenig schmerzt. Wir neigen dazu, die wenigen großen Wissenschaftler, welche wir uns merken können, etwas zu überschätzen. Tatsächlich war Darwins Ruhm schon bald nach seinem Tod so groß, dass er den wissenschaftlichen Fortschritt zu behindern begann. 1900 wurden die Mendelschen Regeln wiederentdeckt. Damals Mendelisten genannte frühe Genetiker (z.B. Bateson, Johannsen und Punnett) versuchten, Darwins Vorstellungen der Vererbung zu korrigieren, sie kritisierten insbesondere Darwins Akzeptanz der Vererbung von umweltbedingten Modifikationen, seine Ansicht, das die Natur keine Sprünge mache, sowie seine Meinung, dass Auslese kreativ sei [1].

Während die Vererbung von Modifikationen von da an stets mehrheitlich abgelehnt wurde, setzten sich die frühen Genetiker mit ihren Argumenten, dass Evolution auch sprunghaft, aber auf jeden Fall nicht in unmerklich winzigen, sondern in messbaren Schritten erfolgt, sowie mit ihrer logisch begründeten Ansicht, das Auslese ein nur tendenziell zuverlässiges Sieb der unvollkommenen Aussonderung des Schlechteren ist, nicht durch. Die sogenannte Moderne Synthese, etwa ab 1918 vorangetrieben durch Populationsgenetiker (vor allem Fisher, Haldane und Dobzhansky), unterstellte den frühen Genetikern ein grundlegendes Unverständnis für den Selektionsprozess und rechtfertigte Darwins Vorstellung der vielen winzigen Schritte und der Auslese als positiv formende Kraft [1]. Ab da wurde das darwinistische Modell der Evolution ein Hemmschuh evolutionsbiologischem Denkens.

Darwin kann man es nicht zum Vorwurf machen, dass er Vererbung als rein quantitativen Prozess langsam fließender Veränderung sah. Im 20. Jahrhundert wurde jedoch schnell klar, das erbliche Veränderungen (Mutationen) in Schritten (diskret) und nicht gleitend (graduell) erfolgen. Diese Mutationschritte können häufig sehr klein (einzelne Nukleotidaustausche), aber auch sehr groß sein (Verdopplung ganzer Genome, Endosymbiose, horizontaler Genaustausch, Genduplikationen). In jeden Fall wird die resultierende erbliche Variation jedoch durch die Wahrscheinlichkeit des Auftretens entsprechender Mutationen mitbestimmt. Selektion kann nur aussortieren, was zuvor entstanden ist.

Kurz, Charles Darwins unsterblicher Verdienst besteht in einer ersten wissenschaftlich begründeten Theorie biologischer Evolution und im Erkennen der natürlichen Auslese als Evolutionsfaktor. Seit mehr als 100 Jahren gibt es jedoch empirisch begründete Argumente gegen Darwins Modell der Evolution. Für Darwin war Selektion der einzig bedeutsame Faktor, welcher die Organismen entsprechend der Umweltbedingungen formte. Variation war für ihn nur eine Konstante, eine kontinuierlich vorhandene Quantität ohne spezifische Qualitäten [2]. Evolution ist aber keine stetige, langsam fließende, unmittelbar durch Selektion getriebene Veränderung, d.h. sie verläuft nicht darwinistisch. Sie ist ein durch unterschiedlich wahrscheinliche Mutationen getriebener, durch Zufälle im Leben der einzelnen Organismen (genetische Drift) beeinflusster Prozess mehr oder weniger erfolgreicher Reproduktion (Selektion) genetisch voneinander verschiedener Organismen.

[1] Stoltzfus A, Cable K. Mendelian-Mutationism: The Forgotten Evolutionary Synthesis. J Hist Biol. 2014 May 9.

[2] Gould SJ. The Structure of Evolutionary Theory. Belknap Press, 2002, p.140.


Gibt es eine von der Biologie unabhängige Evolutionstheorie?

Es unterliegt wohl keinen Zweifel, dass die Evolutionstheorie zumindest ursprünglich zur Erklärung der Evolution der Organismen ersonnen worden ist. Ihre Ausweitung auf Objekte außerhalb der Biologie ist späteren Datums. Wenn das so ist, kann diese Ausweitung nur dann sinnvoll sein, wenn zumindest die grundlegende Gesetzmäßigkeit der Evolution auch außerhalb der Biologie angewendet werden kann. Diese fundamentale Gesetzmäßigkeit ist das Zusammenwirken von Mutation, Drift, Selektion und Rekombination bei der allmählichen Veränderung der Genome. Dieses Genom ist stets eine interne, sehr stabil reproduzierte, vererbte Struktur der durch die Evolution geformten Objekte. Es ist für die Reproduktion sämtlicher Lebensprozesse unverzichtbar.

Eine solche, lediglich durch die Veränderung der Zahl und Identität seiner gleichartigen Bausteine (Nukleotide) veränderbare lineare Struktur ist z.B. unser Gehirn nicht, da die materielle Grundlage des Gedächtnisses mit Sicherheit ungleich komplexer ist und zugleich das Gehirn nicht nur Speicher, sondern auch Verarbeitungseinheit ist, was für das Genom nicht zutrifft. Zudem lernen Gehirne durch Erfahrungen aus der Umwelt, sind also im Gegensatz zum Genom plastisch. Das ist der Grund, warum kulturelle Entwicklung nicht auf solche zufallsbasierten Prozesse wie Mutation und Drift und auch nicht auf den Tod (Selektion) angewiesen ist, um stattzufinden. Demnach kann das Studium biologischer Evolution keine wesentlichen Gesetze kultureller Entwicklung enthüllen, obwohl die Evolution des Menschen selbst Grundlage der Kultur war; ganz ähnlich wie die Evolution des Lebens auf den chemischen Reaktionen großer Moleküle aufbaut, ohne dass wir daraus ableiten, dass Evolution durch Modelle chemischer Reaktionsabläufe sinnvoll beschreibbar wäre.

Andere angebliche Objekte evolutionärer Veränderung (Autos, Kühlschränke, Sprachen und viele andere Objekte wurden da schon genannt) besitzen gar keine innere Vererbungsstruktur, die Grundlage einer Veränderung aus sich selbst heraus sein könnte. Auch hier kann also vom Wirken eines Vorgangs, den man mit einigen Recht Evolution nennen könnte, keine Rede sein. Wir müssten den Begriff Evolution von jeder Bedeutung (außer Veränderung an sich) lösen, um seine derzeit eher inflationäre Nutzung wissenschaftlich zu rechtfertigen.

Es ist daher sinnvoll, den Begriff Evolution auf die Biologie zu begrenzen [1]. Schließlich gelten die Gesetze der Chemie oder Physik nur für die Forschungsobjekte dieser Wissenschaften (Elementarteilchen bzw. Atome, Ionen und Moleküle), obwohl sie auch in und um Organismen herum wirken, da diese ja aus entsprechenden Bestandteilen bestehen. Mit den Organismen sind jedoch biologische Gesetzmäßigkeiten entstanden, welche physikalische und chemische Gegebenheiten relativieren (z.B. hoher Anteil von Sauerstoff in der Atmosphäre), ohne sie aufzuheben. Genauso verhält es sich auch mit Evolution und Kultur.

[1] Penzlin H. Phänomen Leben. Grundfragen der Theoretischen Biologie. Spektrum Springer, 2014, 437 Seiten.


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Veiko Krauß im August 2017